Wider das Steigerungsspiel: Mit Jugendlichen über das einfache Leben nachdenken

die_jugendforscherin: Beate Großeggers Blog

Es ist zehn Jahre her, da schrieb ich im Auftrag des Jugendministeriums an einer Expertise zum Thema „Wie Jugendliche Lebensqualität verstehen und welche Faktoren ihre Lebensqualität beeinflussen“. Als Titel wählte ich „Prima leben in stereo“, ein Zitat aus der Jugendkultur der 2010er Jahre. Das schien mir damals passend.

Seitdem ist viel Zeit vergangen und es ist vieles passiert. Multikrisen, Kriege und KI – die 2020er Jahre sind von dynamischen Prozessen des Wandels geprägt. Sorgenvoll blickt die Jugend in die Zukunft. Die Klimakrise, neue geopolitische Konfliktherde, offene Fragen der Migrationspolitik, das Drohgespenst eines wiederauflebenden „Kalten Kriegs“ inklusiver atomarer Bedrohung – etliches macht Jugendlichen heute Angst. Nicht zu vergessen die Teuerung, die für viele junge Menschen ein im persönlichen Alltag sehr konkret spürbares Problem ist. All das schlägt sich bei der heutigen Jugend in der Einschätzung persönlicher Lebenschancen nieder:

  • Gingen im Jahr 2020, kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie, lediglich 26 Prozent der 16- bis 29-Jährigen davon aus, dass sie es im Leben später einmal schlechter haben werden als ihre Elterngeneration, ist der Anteil derer, die einen sozialen Fahrstuhleffekt nach unten befürchten und meinen, dass die heutige Jugend zukünftig mit einem schlechteren Lebensstandard rechnen muss, in der Erhebungswelle 2022/2023 auf 42 Prozent gestiegen (Insights-Premium-Abonnent*innen finden in unserem Premium-Portal Zeitreihendaten, die diese Trendentwicklung detailliert abbilden, siehe: FACTSHEET „Zukunftschancen der nachrückenden Generation: Trendentwicklung 2015 bis 2023“).

Materieller Wohlstand und die Hoffnung auf einen steigenden oder zumindest stabilen Lebensstandard auf hohem Niveau ist für junge Menschen heute also nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor zehn Jahren, als für junge Menschen eben noch „Prima leben in stereo“ das Motto war.

Dem nicht genug: Auch die Dynamiken der digitalisierten Gesellschaft werden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mittlerweile nicht mehr nur als Chance empfunden. Die nahezu sämtliche Lebensbereiche erfassende digitale Mediatisierung saugt uns in den Echtzeitmodus und macht unser Leben zunehmend schneller. Der digitale Alltag ist von Hektik, Geschäftigkeit und Stress geprägt. Junge Menschen bewerten dies durchaus kritisch.

Die Ausgangslage, von der aus Jugendliche und junge Erwachsene heute ihre Lebensplanung in Angriff nehmen, ist demnach herausfordernd. Sehen junge Menschen für sich dennoch auch Gestaltungsspielräume und, wenn ja, welche? Denken sie, wenn sie den Statusquo kritisch bewerten, über Alternativen nach? Und: Machen sie sich in diesem Zusammenhang vielleicht auch über ein einfache(re)s Leben Gedanken? Diesen Fragen sind wir im Rahmen einer Fokusgruppenexploration nachgegangen. Und wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden, junge Menschen, die weder aus Selbstverwirklichungsmilieus noch aus sozial privilegierten Lagen stammen, einzuladen.

Mit jungen Menschen über das einfache Leben nachdenken

Wir leben in einer Welt, in der bei den allermeisten Dingen die knallharte Ergebnisorientierung zählt. Mit „Herumphilosophieren“ kann man nicht punkten, sagen Jugendliche. Und die meisten sind darin auch nicht geübt. Über philosophisch angehauchte Lebensfragen wie Lebensqualität, ein „gutes Leben“ oder auch Lebenssinn nachzudenken, ist für sie ungewohnt und daher schwierig. Und doch gilt: „Es ist aber auch irgendwie interessant.“

Im partizipativen Setting mit jungen Menschen über das Leben nachzudenken, hat nicht zuletzt deshalb einen besonderen Charme. Als Jugendforscherin beschäftigen mich hier drei Fragen besonders:

  • erstens: Woran denken junge Menschen, wenn sie „ein einfaches Leben“ hören?
  • zweitens: Kann das, was sie mit einem einfachen Leben verbinden, aus ihrer Sicht ein gutes Leben sein?
  • und drittens: Ist ein einfaches Leben, so wie sie es verstehen, möglicherweise auch für sie persönlich eine Option?

Selbstgenügsam vs. unkompliziert: Einfach leben – was heißt das überhaupt?

Wie die Fokusgruppenexploration zeigt, kann ein einfaches Leben für Jugendliche unterschiedliches bedeuten: in bescheidenen Verhältnissen zu leben, aber auch ein unkompliziertes Leben zu führen. Und das eine hat aus Sicht junger Menschen mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun.

Ein bescheidenes Leben zu führen ist, anders als die „Philosophie der Einfachheit“ es nahelegt, wenig attraktiv. Kein Wunder: Einfach und bescheiden zu leben, ist in der sozialen Lage unserer Fokusgruppenteilnehmer*innen keine bewusst getroffene Lebensentscheidung. Selbstgenügsamkeit resultiert hier meist vielmehr aus mangelnden Mitteln, um ein in materieller Hinsicht besseres Leben zu führen.

Kein Geld ausgeben ist für die Jugendlichen demnach nahezu gleichbedeutend mit kein Geld ausgeben können. Bescheiden leben zu müssen, weil die finanzielle Grundlage für einen guten Lebensstandard fehlt, das wollen sie selbstredend nicht. Das Gegenteil von einem in materieller Hinsicht einfachen Leben wäre ein Leben in Luxus: mit Villa, Yacht und Chauffeur. So stellen sie sich das vor. Für sie selbst liegt dies außer Reichweite, diesbezüglich sind sie sich sicher.

Bemerkenswerterweise wird ein einfaches Leben allerdings nicht immer gleich mit materiellen Aspekten der Lebensführung in Verbindung gebracht. Einfach leben kann für junge Menschen nämlich ebenso gut auch unkompliziert leben bedeuten. Ein unkompliziertes Leben bedeutet für Jugendliche „kein Stress“, „keine Sorgen“, keine große Verantwortung tragen, selbstbestimmt leben, nicht ständig den Erwartungen anderer entsprechen und nach deren Pfeife tanzen müssen sowie ausreichend Eigenzeit. In der aktuellen biographischen Situation wäre all das aus ihrer Sicht erstrebenswert.

Wir können also festhalten: Ein einfaches Leben im Sinne eines weniger komplizierten Lebens ist cool. Minimalismus im Sinne von Reduktion auf materielle Basics ist für junge Menschen aus nicht explizit privilegierten Milieus hingegen wenig attraktiv. Vielmehr wäre ihnen eine materiell gesicherte Basis als Grundlage für ihre Lebensplanung wichtig. Und dabei denken sie sich: Keine finanziellen Sorgen zu haben, macht das Leben auf jeden Fall auch einfacher.

Wie viel Geld braucht man, um gut und glücklich zu leben?

„Arm sein ist sch***“, darin sind sich die Jugendlichen einig. Wieviel Geld man braucht, um glücklich zu leben, darüber scheiden sich hingegen die Geister. Wer fast gar kein Geld hat, träumt vielleicht gerade deshalb von materiellem Luxus. Für andere gilt: Man sollte zumindest finanziell sorgenfrei sein. In der Basic-Variante heißt das: „Geld haben für alles, was man braucht“ (materielle Sicherheit), in der gehobeneren Form hingen „Geld haben für alles, was man möchte“ (materieller Wohlstand).

Was es aus Sicht der Jugendlichen braucht, um ein gutes Leben zu führen, ist schnell aufgezählt:

  • erstens: zumindest so viel Geld zur Verfügung haben, dass man sorgenfrei leben kann,
  • zweitens: die richtigen Menschen um sich herum (gute soziale Einbindung; Familie und Freund*innen) und
  • drittens: dass man das, was man tut bzw. tun muss, auch halbwegs gerne macht.

Von einem Trend zur „neuen Genügsamkeit“ ist demnach nichts zu bemerken. Die Ideale der Voluntary Simplicity-Bewegung sind den Jugendlichen, die an unserer Fokusgruppenexploration teilnahmen, ebenso fremd wie Konzepte ästhetischer Einfachheit. Thoreaus Hütte können sie nichts abgewinnen. Und mit dem Argument, dass in der Überflussgesellschaft bewusster Konsumverzicht dazu beitragen könne, die subjektiv empfundene Lebensqualität zu steigern, fangen sie schon gar nichts an: wohl auch deshalb, weil sie nicht das Gefühl haben, ein Leben in Überfluss zu führen.

Downshifting light im Sinne von sanfter Konsumreduktion ist schon eher Thema als radikaler Konsumverzicht, wobei die Argumente, die die Jugendlichen vorbringen, interessanterweise vor allem auf positive Effekte einer mit reduziertem Besitz verbundenen Reduktion der Alltagskomplexität verweisen. Ihnen geht es also primär um Ballast ablassen, ausmisten, entrümpeln – frei nach dem Motto: „Simplify your life!“.

„Unkompliziert leben“ zwischen „leicht leben“ und „langweilig leben“

Immer mehr, immer größer, immer schneller – Steigerungslogiken, die unser gesellschaftliches wie auch unser privates Leben durchdringen, tragen dazu bei, dass unser Alltag immer dichter und unser Leben gefühlt immer komplizierter wird. Das Steigerungsspiel spielen wir zwar fast alle in der einen oder anderen Form mit. Zugleich wächst aber die Sehnsucht nach einem einfachen im Sinne von einem unkomplizierten Leben, und zwar nicht nur in der erwachsenen Bevölkerung, sondern auch bei Jugendlichen. 

Doch was macht ein unkompliziertes, einfaches Leben eigentlich aus? „Ich habe nicht wirklich eine Definition“, antwortet im Rahmen unserer Fokusgruppenexploration eine der Jugendlichen. „Ich würde halt sagen, entweder ist es einfach langweilig oder einfach gut.“ Nachdenklich fügt sie hinzu: „Aber es ist eh realitätsfern ein unkompliziertes, einfaches Leben zu haben.“

Und die anderen ergänzen:

  • „Einfach kann heißen: Es passiert nichts. Dann ist ein einfaches Leben langweilig. Oder es ist alles leicht, also angenehm. Es kann beides heißen.“
  • Und: „Wenn es zu einfach ist, dann ist es auf jeden Fall langweilig.“
  • Abgesehen davon gilt: „Wenn dir alles scheißegal ist, dann ist automatisch auch alles einfacher …“, aber das scheint den Jugendlichen (und auch mir) nicht unbedingt wünschenswert.

Wohlhabend zu sein, ist für die Jugendlichen übrigens noch lange kein Garant für ein unkompliziertes Leben: „Man hat immer Probleme, egal in welcher Lage man ist. Ich arbeite in einer Bank und sehe es bei meinen Kunden. Egal wieviel Geld die haben, die haben immer irgendein Problem …“

Sein Leben umkrempeln ist nicht einfach

Für mich als Jugendforscherin ist spannend zu beobachten, wie das Denken der Jugendlichen um ein einfaches Leben als gutes Leben kreist. Teils greifen sie dabei, ohne es zu wissen, Argumente aus der in den Sozialwissenschaften und der Philosophie geführten Debatte auf. Teils entwickeln sie – bezugnehmend auf ihre konkreten Alltagserfahrungen – aber auch ganz eigene Problemperspektiven und liefern in Alltagssprache eine, wie mir scheint, durchaus schlüssige Kritik am gesellschaftlichen Steigerungsspiel.

Und sie schließen dabei an Jérôme Brillaud, Autor des Buches „Philosophie der Einfachheit“, an. Brillaud meint: „In den meisten Fällen beginnt ein einfaches Leben mit der Entscheidung, sein Leben umzukrempeln.“

Sein Leben umzukrempeln, ist manchmal unvermeidlich, manchmal eine Wohltat, die man sich selbst beschert, aber es ist selten einfach. Das, so scheint es, ist den Jugendlichen jedenfalls bewusst.


AUTORINNEN-INFO: 
Dr. Beate Großegger – Institut für Jugendkulturforschung
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