die_jugendforscherin: Beate Großeggers Blog
Einige Überlegungen zu den Paradoxien einer gespaltenen Gesellschaft, der Sehnsucht nach einem neuen Miteinander und Verstehen-Wollen als Voraussetzung dafür
Junge Menschen blicken kritisch auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre. Ihre Sorge gilt nicht nur der persönlichen Zukunft, sie machen sich auch über das soziale Miteinander in unserer Gesellschaft Gedanken. Alle wollen mehr Miteinander, aber gefühlt gibt es immer mehr Gegeneinander. Sich trotz unterschiedlicher Bedürfnisse und/oder unterschiedlicher weltanschaulicher Positionen im Dienste des größeren gemeinsamen Ganzen zusammenzuraufen, ist eine Kompetenz, die uns abhandenzukommen scheint.
Krisen machen uns müde, dünnhäutig und wohl auch ein wenig egoistisch
Die verdichtete Krisenerfahrung der jüngsten Vergangenheit hat uns müde gemacht. Krisenerschöpfung macht sich breit – bei jungen, aber auch älteren Menschen. Wird die subjektiv erlebte Belastung zu hoch, schwinden Solidaritätskapazitäten: Man klinkt sich aus und entwickelt zum psycho-emotionalen Selbstschutz ein tellerrandfixiertes Denken. Soziale Entsolidarisierungsprozesse sind, wie Expertinnen und Experten warnen, die drohende Folge.
Wir klagen für uns selbst Respekt und Anerkennung ein. Die Position des Anderen können oder wollen wir oft aber nicht verstehen. Mir fällt dazu ein Reim ein, den ich noch aus Kindertagen in Erinnerung habe: „Alle denken nur an sich, nur ich, ich denke nur an mich …“
Jedem seine „Bubble“: die Geborgenheit des Vertrauten
Nicht zuletzt aufgrund der Teuerungskrise fürchten viele eine wachsende Kluft hinsichtlich zukünftiger Lebenschancen: zwischen Jung und Alt, aber vor allem auch zwischen Arm und Reich. Junge Menschen sehen aber auch wachsende Intoleranz und soziale Kälte als bedenkliche Entwicklungen unserer Zeit.*
Was in Sachen „Qualität des Miteinanders“ verstört, ist zum Teil krisengemacht. Doch auch die fortschreitende gesellschaftliche Individualisierung und Pluralisierung hat Auswirkungen auf das soziale Miteinander. Unsere hochindividualisierte Gesellschaft zersplittert in eine nahezu unüberschaubare Vielfalt an Teilsystemen und Teilgruppen. Es ist kaum möglich, sich auf alles und jeden einzulassen bzw. auf alles und jeden intensiv einzugehen.
Je unübersichtlicher die Welt wird und je größer die individuellen Herausforderungen in der Alltagsbewältigung sind, desto eher suchen wir Geborgenheit im Vertrauten und Schutz in der „Bubble“. Eine Unzahl an „Bubbles“ stehen in unserer Gesellschaft heute unverbunden nebeneinander. Jede für sich markiert eine psycho-emotionale Heimat, die teils mit scharfen Grenzen umrissen ist.
Die von Seiten der empirischen Jugendforschung nachgewiesene hohe Gemeinschaftsorientierung der heutigen Jugend ist demnach nicht immer nur „nett“ und „niedlich“, wie es die öffentliche Jugenddebatte gerne glauben macht. Die in den „Bubbles“ zirkulierenden Weltanschauungen, Betroffenheiten, Bedürfnisse und Ziele stehen vielfach unvereinbar gegeneinander und werden noch dazu in einem kaum zu bewältigenden digitalen Echtzeitstrom in die Welt gespült. Willkommen im Kosmos polarisierender Echo-Kammern!
Abblocken und Wehleidigkeit als Symptome der Zeit?
Weltanschauliche Debatten waren wohl noch nie einfach, heutzutage sind sie zumindest aus Sicht junger Menschen aber richtig schwierig geworden, und zwar nicht zuletzt aufgrund des Stils, in dem sie geführt werden. Um sich damit nicht herumschlagen zu müssen, klinken sich viele Jugendliche ganz einfach aus.
Die Verhandlung der großen gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit hat tatsächlich eine eigenartige Dynamik entwickelt. Verhärtete Fronten und durch ausgeklügelte Inszenierungen aufgeschaukelte Konflikte bestimmen die Tagespolitik. Drohgebärden und mehr oder minder subtile Strategien, den Anderen übers Ohr zu hauen, blockieren den Dialog und stehen sogar einem argumentativ hart ausgetragenen Dissens im Wege. Jugendliche haben den Eindruck: „Da geht es einfach nur um jeder gegen jeden.“ Darüber sind viele irritiert.
Auch abseits der offiziellen Sphäre der Institutionenpolitik dominieren die Dynamiken des Gegeneinanders die Hoffnung, dass man sich – mit Blick auf ein größeres gemeinsames Anliegen – trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen zusammenraufen könnte: beispielsweise für eine gute Zukunft der nachrückenden Generation.
Insbesondere bei den gesellschaftspolitisch umkämpften Zukunftsthemen lässt sich seitens der um Deutungshoheit ringenden Akteur*innen eine seltsame Überempfindlichkeit beobachten, die, wie mir scheint, dem lösungsorientierten Dialog abträglich ist. Und ich frage mich: Ist dies ein Symptom unserer Zeit?
Mit Überempfindlichkeit meine ich weder Vunerabilität, noch Hochsensibilität, sondern eine um das Eigene kreisende Wehleidigkeit. Die krisenbedingt erhöhte Vulnerabilität bestimmter Bevölkerungsgruppen ist ein Faktum, das man ganz ohne Zweifel ernstnehmen muss (ich denke hier etwa an soziale Krisenfolgen bei Jugendlichen aus benachteiligten Milieus). Hochsensibilität – ein Modewort unserer Zeit – verweist hingegen lediglich auf eine zum breiten Bevölkerungsdurchschnitt alternative Reiz- bzw. Informationsverarbeitung. Mit Überempfindlichkeit meine ich, im Gegensatz dazu, eine nicht-dialogfähige Wehleidigkeit, verbunden mit einem unkooperativen Sich-Zurückziehen auf die eigene Betroffenheit oder Standpunkte, die aus einseitiger Beschäftigung mit den eigenen Sorgen und Ängsten resultieren.
Diese gibt der gefühlten Spaltung der Gesellschaft Auftrieb. Und sie hat auf eine eigenartige Art und Weise wohl auch irgendwie damit zu tun, dass wir uns nicht mehr verstehen oder vielleicht besser: dass wir uns gegenseitig nicht mehr verstehen wollen. Kann man dem irgendwie gegensteuern und, wenn ja, wie?
Verstehen-Wollen: Was die Gesellschaft von den Sozialwissenschaften lernen kann
Als Sozialwissenschaftlerin werde ich häufig gefragt, welchen Nutzen die Sozialwissenschaften haben, oder auch, was sich Otto Normalverbraucher von den Sozialwissenschaften abschauen kann. Nicht immer lässt sich das so einfach beantworten. In diesem Fall aber schon. In den Sozialwissenschaften beschäftigen wir uns sehr genau und vor allem auch sehr selbstkritisch mit Grundlagen und Voraussetzungen des Verstehens.
Zentral für sozialwissenschaftliches Verstehen ist, dass man nicht versucht, Unbekanntes auf Bekanntes zurückzuführen, sprich: dass man bereit ist, über den Tellerrand des Vertrauten hinauszublicken. Der Prozess des sozialwissenschaftlichen Verstehens gestaltet sich dabei mehrstufig.
- Der erste und wichtigste Schritt ist die Perspektivenübernahme. Das heißt, es geht um die Frage „Was nimmt der bzw. die Andere von seinem bzw. ihrem jeweiligen sozialen und kulturellen Standort aus war?“, „Welche Wertvorstellungen und welche Muster der Lebensführung zirkulieren an diesem sozialen und kulturellen Standort und was markiert dort akzeptierte Normalitätsstandards?“, „Wie ist er oder sie sozialisiert, welche generationenprägenden Erfahrungen hat er bzw. sie gemacht?“, „Wie spiegelt sich dies im Denken, Fühlen und Handeln des/der jeweils Anderen wider?“ und, mit all dem verbunden, natürlich auch die Frage: „Welche Relevanzsetzungen trifft der bzw. die Andere im persönlichen Alltag und welche Motive liegen seinen bzw. ihren Lebensäußerungen zugrunde?“
- Ein zweiter wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit sozialwissenschaftlichem Verstehen ist das reflektierte Einbringen des eigenen Vorverständnisses. Es geht also um kritische Selbstreflexion und die Frage: „Lege ich aus oder interpretiere ich hinein?“
- Und drittens versuchen wir in den Sozialwissenschaften eine Beziehung zwischen den Teilen und dem Ganzen herzustellen. Das heißt, es geht darum, das, was wir beobachten und was uns vielleicht durchaus irritiert, im Rahmen des jeweiligen Kontextes zu sehen. Hier schließt sich der Kreis und wir landen erneut bei Perspektivenübernahme, die einem Verstehen des/der Anderen zur Grundlage wird, wobei das Verstehen, wie Gernot Saalmann betont, immer auch ein Verstehen-Wollen voraussetzt.**
Aus sozialpsychologischer Perspektive findet das Verstehen-Wollen abhängig von Persönlichkeitsfaktoren nicht bei jedem und jeder in gleichem Ausmaß Platz. Eitelkeit, Arroganz oder ein autoritärer Charakter blockieren das Verstehen-Wollen häufig. Aber auch Menschen mit brüchigen Identitätskonstruktionen und/oder sozialen Ängsten sind für ein Verstehen-Wollen nicht immer ausreichend offen; sie fühlen sich durch das Fremde, Andere, Unvertraute verunsichert und tendieren daher vielfach zum Vermeiden wie auch zum Vereinfachen. Anders gesagt: Sie lassen das Unvertraute, Andere in seiner Andersheit nicht an sich heran und gehen zum Prinzip des Verstehen-Wollens auf Distanz.***
Gerade in Zeiten der Krise, in der die sozialen Ängste, wie Umfragedaten zeigen, zunehmen und die Krisenbelastung dazu beiträgt, dass Identitätskonstruktionen brüchig werden, ist ein an Verstehen-Wollen orientiertes sich Konfrontieren mit dem Anderen, Unvertrauten, Fremden nicht mehr etwas, das wir so ohne weiteres voraussetzen können.
Perspektivenübernahme als notwendige Vorleistung für kooperative Strategien
Dass wir alle zunächst einmal blind sind für die Lebensrealitäten, die nicht die unseren sind, ist normal. Und auch, dass ein Aufeinander-Zugehen in einer zunehmend komplexen, unübersichtlichen und von zahlreichen gesellschaftlichen Herausforderungen geprägten Welt alles andere als einfach ist, ist verständlich.
Dass wir gerade deshalb Strategien der Perspektivenübernahme benötigen, um von dem, was sich in diesen Lebensrealitäten abspielt, überhaupt etwas mitzubekommen, aber auch, dass wir verstehen wollen müssen, wie diese Lebensrealitäten auf das Fühlen und Denken der Menschen zurückwirken, liegt auf der Hand. Wobei eines klar ist: Verstehen wollen bedeutet nicht immer automatisch auch akzeptieren.
Ich denke, wir müssen es irgendwie schaffen, (wieder) über unseren eigenen Tellerrand hinauszublicken. Wenn wir das nicht tun, werden wir uns zwar mehr Miteinander wünschen, aber dennoch weiterhin besorgt auf die zunehmende Spaltung der Gesellschaft blicken.
* Im Kapitel „Soziale Krisenfolgen und Solidarprinzip aus lebensweltlicher Sicht junger Österreicherinnen und Österreicher“ des 8. Berichts zur Lage der Jugend in Österreich: Modul 2 – Lebenswelten und Werte habe ich dazu für den Vergleichszeitraum 2020 bis 2023 Daten aufgearbeitet, siehe S. 247-253
** vgl. Saalmann, Gernot: Verstehen können und verstehen wollen, in: Rehbein, Boike; Saalmann, Gernot (Hg.): Verstehen, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2009, S. 185-192
*** Saalmann, Gernot: Verstehen können und verstehen wollen, in: Rehbein, Boike; Saalmann, Gernot (Hg.): Verstehen, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2009, S. 185-192, S. 189f
AUTORINNEN-INFO: Dr. Beate Großegger – Institut für Jugendkulturforschung
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