die_jugendforscherin: beate großeggers blog – 6.11.2023

Angst um psychische Gesundheit – ein Zeitphänomen?

Krisen folgen eigenen Gesetzen: Sie brechen über uns herein und konfrontieren uns mit Situationen, auf die wir nicht vorbereitet waren. Das gilt für persönliche Lebenskrisen. Und es gilt ebenso für krisenhafte gesellschaftliche Entwicklungen, wie wir sie derzeit in verdichteter Form erleben: zuerst die Pandemie, dann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die damit verbundene Energie- und Teuerungskrise, klimabedingte Umweltkatastrophen, die auch hierzulande ihre Spuren hinterlassen (etwa das Hochwasser, das im Sommer 2023 den Süden Österreichs verwüstete und zahlreiche Existenzen an den Rand des Ruins brachte) und aktuell ein neuer, blutiger Krieg in Nahost.

Medien liefern uns die unerfreulichen Nachrichten in Echtzeit in unsere Wohnzimmer. Unsicherheit, vor allem aber auch ein Gefühl der Hilflosigkeit macht sich breit. Geschehenes ungeschehen zu machen, ist nicht möglich. Krisenereignisse wie auch das damit verbundene Krisenempfinden lassen sich nicht so einfach aus der eigenen Biographie ausradieren. Für jede und jeden Einzelnen von uns, geht es darum, Wege zu finden, um mit unserer ganz persönlichen Krisenerfahrung so umzugehen, dass wir im Alltag nicht in Resignation und/oder Lethargie verfallen, sondern handlungsfähig bleiben.

Oft ist das Einzige, was bleibt, den Kopf nicht gleich in den Sand zu stecken und sich für eine konstruktive Haltung gegenüber einer als herausfordernd empfundenen Situation zu entscheiden. Das wissen wir alle spätestens seit Ausbruch der Pandemie: als der erste Corona-Lockdown gewohnte Alltagsroutinen quasi von einem Tag auf den anderen völlig durcheinanderwirbelte. Diese Erfahrung hat uns für die Frage sensibilisiert, wie man in persönlich und/oder gesellschaftlich schwierigen Zeiten seine psychische Gesundheit bewahrt. Der Buchmarkt hat auf diese Frage schnell reagiert: Bücher, die das Thema „Selbsterschöpfung“ aufgreifen, vor allem aber Lektüre, die alltagsnahe Tipps gibt, wie man Grübelschleifen durchbrechen und Entspannungstechniken nutzen kann, um negativen Stress abzubauen und psychisch die Balance halten kann, gibt es zuhauf. Das meiste davon richtet sich freilich an Büchermenschen im etablierten Erwachsenenalter. Es gibt aber auch Autoren, die sich, gespickt mit der richtigen Dosis „Lifestyle“,  an ein jüngeres Publikum adressieren, etwa Ralph de la Rosa mit „Monkey Mind“ oder der Influencer Jay Shetty mit „Ruhe in dir“. Im Alltag der breiten Mehrheit junger Menschen sind sie bislang aber nicht wirklich angekommen.

Die Krisenbelastung ist für junge Menschen zwar nach wie vor hoch, dennoch greift nur eine Minderheit zu Entspannungstechniken und gönnt sich so eine „kleine Krisenpause zwischendurch“ (Grafik). Das gilt selbst für jene, die in Sachen psychische Gesundheit sensibilisiert und angesichts des Dauerkrisenmodus, in dem sich unsere Gesellschaft während der letzten Jahre befindet, um die psychische Gesundheit besonders besorgt sind. Noch am ehesten findet die klassische Achtsamkeitsmeditation in jungen Lebenswelten Platz, und zwar unabhängig von Geschlecht und Bildung. Der Yoga-Trend erreicht nach wie vor nur eine vergleichsweise kleine Gruppe und zeigt sich bei 16- bis 29-Jährigen als bildungsnahes Phänomen und weiblich. Und auch autogenes Training ist bei jungen Leuten heute kaum Thema, wenn es darum geht, für sich selbst einen stimmigen Weg zu finden, um gut durch schwierige Zeiten zu kommen.

Eines hat sich während der letzten krisengeschüttelten Jahren dennoch verändert: Das grundsätzliche Interesse junger Menschen am Thema „Gesundheit“ ist gestiegen. In der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen geben 51% der Mädchen und jungen Frauen sowie 37% der Burschen und jungen Männer an, dass Gesundheit während der Pandemie für sie persönlich wichtiger geworden sei.

Gesundheit ist im Wertekosmos der heutigen Jugend zu einem zentralen Wert geworden

Die Pandemieerfahrung hat viele Jugendliche und junge Erwachsene für das Thema „Gesundheit“ sensibilisiert. Und angesichts der multiplen gesellschaftlichen Krisen, die wir derzeit erleben und die man als junger Mensch erst einmal verarbeiten muss, aber auch im Hinblick auf die hohen Leistungsanforderungen in der Arbeitswelt sind Jugendliche und junge Erwachsene heute um ihre Gesundheit teils sehr besorgt.

  • Fragt man 16- bis 29-Jährige, was ihnen im Leben ganz besonders wichtig ist, wird an erster Stelle „Gesundheit“ genannt, und zwar vor einem „sicheren Job“, vor „genug Zeit für persönliche Interessen“, vor verlässlichen Freundschaften und auch vor einer harmonischen Beziehung zu den Eltern.
  • Die körperliche Gesundheit steht in jungen Jahren zwar noch nicht so stark im Vordergrund, die psychische Gesundheit hingegen sehr wohl: vor allem bei den jungen Frauen. Was ihnen Angst macht, ist, dass ihre persönlich empfundene Krisenbelastung an einen Kipppunkt kommen könnte, so dass sie die Kontrolle über das eigene Leben verlieren.
  • 4 von 10 jungen Frauen und 2 von 10 jungen Männern machen sich aktuell ernsthafte Sorgen um die psychische Gesundheit. Und es geht ihnen dabei nicht nur um ihr persönliches Wohlbefinden. Sie wissen, dass Gesundheit den Zugang zu vollwertiger Teilhabe in der Gemeinschaft wie auch der Gesellschaft erleichtert oder anders herum: dass „krank sein“ vollwertige Inklusion erschwert.

Psychische Gesundheit ist aus Sicht der nachrückenden Erwerbsgeneration eine wichtige Grundlage für langfristig gute Erwerbsintegration. Geht es nach der heutigen Jugend, sollte das Thema „psychische Gesundheit“ daher bereits in der Berufsorientierungsphase, spätestens aber ab der Berufseinstiegsphase in den Mittelpunkt der betrieblichen Gesundheitsförderung rücken.

Unbeschwerte Jugend, das war einmal

Wenn wir über die heutige Jugend sprechen, müssen wir uns vom gängigen Klischee einer „unbeschwerten Jugend“ verabschieden. Forschungsdaten sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache und sie bestätigen das, worauf Expertinnen und Experten der Kinder- und Jugendmedizin hinweisen: Die Zahl junger Menschen, die aufgrund psychischer Probleme professionelle Hilfe benötigen, steigt.

Während der Pandemie zeigten 8 von 10 Jugendlichen und jungen Erwachsenen Belastungsreaktionen. „Soziales Fremdeln“, wie man es in den Corona-Lockdowns gehäuft beobachten konnte, ist heute zwar keine große Sache mehr. Fokussierungsprobleme, depressive Verstimmung und Schlafstörungen, die, wie ich aus Gesprächen mit Jugendpsychiatern entnehme, ein erster Hinweis auf eine psychische Erkrankung sein können, beschäftigen aber nach wie vor.

Mit anderen Worten: Die Nachwehen der Pandemie sind, gerade wenn es um „Wellbeing“ geht, immer noch spürbar. Zwar navigiert die breite Mehrheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen erstaunlich gut durch die nicht einfachen Zeiten. Doch es gibt eben auch andere: junge Menschen, die ihr „Warum zu leben“ zumindest vorübergehend verloren haben – sei es aufgrund einer großen persönlichen Lebenskrise, zu viel Druck und Stress und/oder aufgrund ihrer mit den Krisenthemen unserer Zeit verbundenen Zukunftsängste. Sie brauchen unsere Unterstützung. Und sie haben ein Recht auf möglichst niederschwellige Hilfe. Wobei es, ergänzend zu bestehenden Angeboten, hier neue lebensweltorientierte Ansätze zu finden gilt, um auch jene abzufangen, die erfahrungsgemäß klassischen therapeutischen Angeboten gegenüber nicht übermäßig aufgeschlossen sind: etwa junge Menschen aus unteren Sozialmilieus oder generell auch männliche Jugendliche.     

Detail am Rande: Jugendliche und junge Erwachsene, die sich um ihre psychische Gesundheit besonders große Sorgen machen, reagieren auch auf aktuelle gesellschaftliche Krisen besonders verunsichert.

Zuversicht ist gut, aber von jungen Menschen immer nur Zuversicht zu fordern, ist „Laissez-faire“

Als Jugendforscherin würde ich mir wünschen, dass Jugendliche und junge Erwachsene ihre Belastungen benennen dürfen und die Erwachsenengesellschaft darauf nicht, wie immer öfter der Fall, mit einem schulterzuckenden „Es wird schon werden“ reagiert. Wir dürfen von jungen Menschen nicht ständig nur Zuversicht einfordern, sondern müssen uns auch Gedanken darüber machen, wie wir Belastungen abfedern und sie unterstützen können, so dass sie privat wie beruflich im Leben gut Fuß fassen.

Es stimmt schon: Wir alle sind mittlerweile selbst mehr oder minder krisenmüde und wollen das Wort „Krise“ vielleicht auch gar nicht mehr hören. Wir müssen uns aber nichtsdestotrotz mit der Frage beschäftigen, wie es jungen Menschen geht und wie sie, die ihr Selbstmanagement in herausfordernden Zeiten mit weitaus weniger Lebenserfahrung zu bewerkstelligen haben als wir Erwachsene, trotz der enormen Zukunftsunsicherheit, die sie verspüren, einen guten Weg in die Zukunft finden.

Und wir sollten auch die Sorge um psychische Gesundheit ernst nehmen, und zwar nicht nur aus reinem Mitgefühl mit jenen, für die die Belastungen, aus welchen Gründen auch immer, schlicht und einfach zu hoch sind. Denn eines ist unbestritten: Psychische Gesundheit ist eine der wirklich wichtigen Voraussetzungen dafür, dass junge Menschen Verantwortung übernehmen können, so wie wir es von ihnen erwarten – Verantwortung für sich selbst, aber auch Verantwortung für andere. Ich denke dabei an Solidarität mit Schwächeren in unserer Gesellschaft, an die Verantwortung, die junge Menschen übernehmen, wenn sie Familie gründen, und ebenso an die von der nachrückenden Erwerbsgeneration eingeforderte Verantwortungsübernahme im Beruf.

Die Sache ist also durchaus komplex, das müssen wir sehen, wenn wir uns mit der Angst junger Menschen um psychische Gesundheit beschäftigen. Zugleich dürfen wir aber auch ein wenig stolz sein auf die heutige Jugend, die, wie aktuelle Forschungsdaten zeigen, nicht nur krisengeplagt, sondern mittlerweile durchaus krisenerprobt in Erscheinung tritt. Wenngleich nur ein kleiner Teil auf die von Expertinnen und Experten empfohlenen Entspannungstechniken setzt, um psychisch stabil durch herausfordernde Zeiten zu kommen, entwickeln Jugendliche und junge Erwachsene interessante Ansätze für konstruktives Selbstmanagement in der Krise. Sie experimentieren mit Entlastungsstrategien, die sich ohne großen Aufwand mitten in den jugendlichen Lebenswelten verankern lassen. Sie nutzen Sport und Bewegung zum Stressabbau. Sie suchen und finden in Gemeinschaftsorientierung Sinn und Halt. Sie wissen um den Stellenwert von ausreichend Schlaf. Sie wenden sich ganz bewusst Freizeitaktivitäten zu, die ihnen Flow-Gefühle bescheren und Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen. Und sie sind vor allem auch erstaunlich gut darin, mit der Wahl eines jugendkulturellen Lifestyles, der zu „no future“ klar auf Distanz geht, etwas Fröhlichkeit in ihren oft durchaus sehr herausfordernden Alltag zu bringen.

Mehr über das Selbstmanagement junger Menschen in der Krise erfahren Sie in unserer neuen Jugendstudie „Generation Nice“. Mehr über mich und meine Forschungsarbeit unter: Dr. Beate Großegger – Institut für Jugendkulturforschung

Buchtipps für Lesemenschen:

  • De la Rosa, Ralph: Monkey Mind. Was dein Verstand dir sagen will, Bielefeld: fischer & gann, 2020
  • Eberlein, Gisela: Gesund durch Autogenes Training, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2017
  • Esch, Tobias: Mehr nichts! Warum wir weniger vom Mehr brauchen, München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2021
  • Frankl, Viktor E.: Wer ein Warum zu leben hat. Lebenssinn und Resilienz (5. Auflage), Weinheim/Basel: Beltz Verlag, 2022
  • Kabat-Zinn, Jon: Im Alltag Ruhe finden. Meditationen für ein gelassenes Leben, Droemer Knaur: München, 2019
  • Nehls, Michael: Das erschöpfte Gehirn. Der Ursprung unserer mentalen Energie und warum sie schwindet: München: Wilhelm Heyne Verlag, 2022
  • Scobel, Gert: Nicht Denken. Achtsamkeit und die Transformation von Körper, Geist und Gesellschaft, Berlin: Nicolai Publishing, 2018
  • Shetty, Jay: Ruhe in dir. Zeitlose Weisheit für ein selbstbestimmtes Leben, Hamburg: Rowohlt, 2022

AUTORINNEN-INFO: Dr. Beate Großegger – Institut für Jugendkulturforschung
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