Do we want to be friends?

die_jugendforscherin: Beate Großeggers Blog

Freundschaft präsentiert sich als unspektakuläres Thema: zu unspektakulär, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erfahren. Aber ist sie das wirklich? Als Lesemensch bin ich kürzlich über ein Buch von Leonie Linek gestolpert: Freundschaft als Sehnsuchtsort. Was Menschen im neuen Mittelschichtsmilieu in ihren Freundschaften suchen. Eigentlich nicht mein Forschungsschwerpunkt, für mich als Jugendforscherin nichtsdestotrotz bereichernd: Ich habe viele Berührungspunkte, aber natürlich auch Unterschiede zu den Freundschaftsidealen Jugendlicher gefunden. Und, was noch wichtiger ist, das Buch hat mich zum Nachdenken gebracht, warum für junge Menschen gerade heute, in den turbulenten 2020er Jahren, Freundschaft so wichtig ist. Aber war das nicht immer so, dass Jugendlichen ihre Freunde wichtig sind, könnten Sie mich jetzt fragen? Meine Antwort lautet: Jein.

Das Thema „Freundschaft im Jugendalter“ suggeriert trügerische Stabilität

Aktuelle Jugendstudien belegen, dass Freunde und Freundinnen für junge Menschen enorm wichtig sind. Gefühlt war das immer schon so. Alles wie immer, so könnte man also meinen. Doch damit liegt man falsch. In den drei Jahrzehnten, die meine Forscherinnenbiografie prägen, hat sich eine Unmenge an Daten angesammelt. Und diese zeigen eines sehr deutlich: dass die Freundschaftskonzepte der Jugend vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen, vor allem aber vor dem Hintergrund des allgemeinen Wertewandels ständig in Veränderung begriffen sind. Das betrifft die Bedeutung, die Jugendliche der Freundschaft zuweisen, ihre Freundschaftsideale und ebenso die Praxis gelebter Freundschaften.

Dass dies oftmals auch eine Neubewertung anderer wichtiger Lebensbereiche, die relational zu Freundschaft zu verstehen sind, wie Familie, Paarbeziehung, aber auch Arbeitswelt, mit sich bringt, wird meist übersehen. Das klingt zu abstrakt? Gut, dann sehen wir uns drei konkrete Beispiele an.

Back to the 90ies: Peers als Konkurrenz zur Familie

Die 1990er Jahre bringen einen enormen Individualisierungsschub. Breits in den 1980er Jahren, genauer gesagt ab Mitte der 1980er, beginnt die Jugendkultur in vielfältige Lifestylegruppen auszudifferenzieren. Im Folgejahrzent nimmt dieser Trend weiter Fahrt auf und die 1990er bringen einen Durchbruch der jugendkulturellen Szenen. Inspiriert von der US-amerikanischen Musikkultur, gewinnen HipHop und Grunge, aber auch Freestyle-Sportarten wie Skaten und Snowboarden an Bedeutung. Zeitgleich zieht Techno als ausgeflippte, junge Party-Szene die Blicke der Öffentlichkeit auf sich. Und im Alternative Rock hält man es mit Garbage-Frontfrau Shirley Manson: „Destroy your idols, create a scene.“

Das Bild, das die Jugend- und Jugendwerteforschung von dieser Zeit zeichnen, zeigt die 1990er Jahre als das große Jahrzehnt der jugendkulturellen Szenen. Zugleich bilden die Forschungsdaten im Bereich der für junge Menschen wichtigen Lebensbereiche einen signifikanten Bedeutungsgewinn der sogenannten „Gesellschaft der Altersgleichen“, sprich: der Freunde und Bekannten ab.

Die biografische Lebensphase „Jugend“ dehnt sich nach unten aus: Heranwachsende entscheiden sich bereits im Pre-Teens-Alter, nicht mehr Kind, sondern Jugendlicher/Jugendliche zu sein. Und sie geben ihrer Selbstdefinition über einen in der Peergroup geteilten jugendkulturellen Lifestyle Ausdruck (Musik, Kleidungsstil, Sprache et cetera). 

Die Jugendforschung reagiert. Man nimmt zur Kenntnis, dass Jugendliche aufgrund des beschleunigten technologischen und kulturellen Wandels das Alltagswissen und die sozialen Handlungspraktiken der Eltern- und Großelterngeneration als zunehmend entwertet oder für die Bewältigung des jugendlichen Alltags zumindest als wenig relevant empfinden. Jugendliche gehen, so wird argumentiert, daher zu traditionellen Sozialisationsinstanzen auf Distanz und orientieren sich stärker an der Gesellschaft der Altersgleichen. Der Fokus der Forschenden richtet sich auf Selbstsozialisation.

Im Konzept der Selbstsozialisation begegnen wir Jugendlichen als Akteuren und Akteurinnen, die durch selbstgesteuerte Aneignung von Welt Fähigkeiten erwerben und Identität bilden. Selbstgesteuerte Aneignung ist dabei nicht nur im engeren Wortsinn als selbstständiger Aneignungsprozess zu verstehen, sondern passiert vor allem in der Interaktion mit dem altersgleichen Freundeskreis. Unter Experten (hier bewusst in der männlichen Form) beginnt daher eine Debatte darüber, ob der Begriff Selbstsozialisation der richtige oder nicht doch vielleicht Peersozialisation der stimmigere sei. Die zu kulturapokalyptischen Prognosen neigende öffentliche Jugenddebatte sieht durch die Konkurrenz der Peergroup indessen die Familie als zentrale Sozialisationsinstanz bedroht. Die Jugendwerteforschung ist, wie so oft, bemüht, zu beruhigen: Zumindest was wichtige Lebensbereiche betrifft, rangiert die Familie neben Freundschaftsbeziehungen auch Ende der 1990er nach wie vor ganz oben.  

Die 2010er: Selbstverwirklichung plus viele Freunde als Projekt der Gesellschaft der Altersgleichen

Die Jahre vergehen. Die Welt, in der junge Menschen aufwachsen, verändert sich. In den frühen 2010er Jahren ist alles anders. Jugendkulturen weichen in digitale Räume aus. Das heißt, sie sind im öffentlichen Raum als expressive Gruppenstile nicht mehr so präsent wie in den 1990ern. Das Internet ist für breite Bevölkerungsschichten zu einem Stück Alltag geworden. Und es hat sich auch in seiner Angebotsstruktur verändert. Das Web 1.0 wird zunehmend vom Web 2.0, dem sogenannten Mitmachnetz, abgelöst. Die Erfolgsgeschichte der Social Media beginnt. Und mit Social Media gewinnt bei Jugendlichen ein bislang kaum vorstellbares Freundschafts- oder besser: Kontaktmanagement an Raum. Jugendliche brüsten sich damit, mehrere 100 Facebook-Freunde zu haben. Plötzlich gilt: Wer mehr Facebook-Freunde hat, ist in der Gesellschaft der Gleichaltrigen auch mehr wert (ganz besonders bei jungen Menschen in wenig privilegierten Milieus).

Die begriffliche Trennlinie zwischen Freundschaft, persönlichen Bekanntschaften, die man aus dem realen Leben kennt, und reinen Social-Media-Kontakten beginnt zu verschwimmen. Was zählt, ist die Community. Es etabliert sich ein Freundschaftsbegriff, der mit dem Freundschaftsideal, welches der engen Freundschaft zu den allerbesten Freunden und Freundinnen zugrunde liegt, radikal in Kontrast steht.

Vor allem in den bildungsnahen Milieus folgen die frühen 2010er Jahre dem Motto „Her mit dem schönen Leben“. Nach der Banken- und Finanzmarktkrise scheint das Schlimmste (zunächst) überwunden. Materielle Aufstiegshoffnungen sind allerdings nach wie vor gebremst. Junge Menschen suchen und finden Lebensqualität woanders. Selbstverwirklichung im Beruf wird vor allem in den Bildungsschichten zu einem großen Thema. Und selbstverwirklichen kann man sich aus Sicht der Jungen am besten in einem jungen, lifestylekompatiblen Team-Umfeld. Ansonsten gilt: Netzwerken, netzwerken, netzwerken! Facebook hebt zum Höhenflug ab: in der privaten Nutzung, aber auch beruflich.

In den Wissens- und Kreativberufen arbeiten junge Menschen als „digitale Nomaden“ von überall aus in der Welt. Die Tourismusbranche entdeckt sie als Zielgruppe und bietet „Workation“ an, also Arbeitsurlaub, beispielsweise im Surfer-Paradies: mit gut ausgestattetem Co-Working-Space plus allem Drum und Dran, was zu einem lifestyletauglichen Urlaubserlebnis dazugehört. Junge Start-ups sind bei ambitionierten „High Potentials“ das Ding der Stunde. Gemeinsam mit mehr oder weniger engen Freunden und Freundinnen ein eigenes Projekt aus dem Boden zu stampfen, ist Triebfeder, um Erwerbsarbeit für die eigene Lifestyle-Nische zu adaptieren. Start-ups werden als Selbstverwirklichungsprojekte gesehen und nicht als das, was sie zumindest in einzelnen Branchen tatsächlich wohl oft eher sind: Notlösungen für das akademische Prekariat.

Im Mainstream der jungen Erwerbsgeneration konzentriert sich das Personalmanagement indessen verstärkt darauf, die Firma als eine Art Ersatzfamilie imagetragend aufzubauen. Das bedeutet u.a. auch, junge Teams als Ersatzfreundeskreise aufzustellen, und zwar aus motivationalen Gründen: damit sich die nachrückende Erwerbsgeneration am Arbeitsplatz wohlfühlt und mehr leistet (dass zwischen sich im Team wohlfühlen und der Bereitschaft, etwas zu leisten, ein Zusammenhang besteht, zeigen Forschungsdaten deutlich). Von Arbeitgeberseite wird eine gemütliche Kaffeeküche für den informellen Austausch, frisches Obst und kleine Snacks für zwischendurch und vielleicht sogar ein Fitness- und/oder Ruheraum bereitgestellt. Für die jungen Teams heißt es, nach Dienstschluss noch gemeinsam auf ein Getränk zu gehen oder gemeinsam erbrachte Teamleistungen mit einem Ausstellungs- oder Restaurantbesuch zu feiern. Und dabei gilt: Das macht wirklich Spaß.

Für die Generation Z ist dies heute keine allzu attraktive Option. Zwar wollen sich junge Menschen auch Mitte der 2020er Jahre am Arbeitsplatz wohlfühlen. Sie legen neben Jobsicherheit und Bezahlung auf ein gutes Betriebsklima sogar sehr viel Wert. Aber sie trennen sehr klar zwischen beruflich und privat und sind meistens froh, wenn sie nach Dienstschluss die Tür zu ihrer Firma schließen können und bis zum Dienstantritt am nächsten Tag von ihrem Job und auch den Leuten, mit denen sie zusammenarbeiten, nichts sehen.

Die unruhigen 2020er: Freundschaften als Zufluchtsort der Generation Z, Ideal und Wirklichkeit laufen auseinander

In den 2020er Jahren stehen die Zeichen auf Zeitenwende: Krisen, Kriege und KI haben unser Alltagsleben gegen den Strich gebürstet. Zukunftsunsicherheit rahmt das Lebensgefühl der heutigen Jugend. Junge Menschen haben das Bedürfnis, sich zumindest punktuell und zeitlich begrenzt aus all dem, was belastet, zurückzuziehen.

Die digitalen Jugendkulturen haben sich weiterentwickelt. Social Media sind mittlerweile ein unspektakuläres Stück Alltag: für die breite Mehrheit so selbstverständlich wie Kühlschrank und Waschmaschine. Zwar ist Facebook bei den Jungen weitgehend passé, doch TikTok und Insta(gram) boomen. Immer mehr Jugendliche begnügen sich allerdings mit Zuschauen. Das heißt, sie nehmen sich in Sachen „Content Creating“ wie auch im Bereich der Kontaktnetzwerkpflege bewusst zurück.

Die Jugend der 2020er setzt (wieder) stärker auf kleine Freundeskreise, frei nach dem Motto „Small is beautiful“. Das Eintauchen in eine von emotionaler Nähe geprägte Gemeinschaft vor Ort gibt ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Wie Daten der Jugendforschung zeigen, helfen gute, verlässliche Freunde und Freundinnen jungen Menschen in gesellschaftlich turbulenten Zeiten, in denen niemand so recht weiß, wie es weitergeht, psychisch stabil zu bleiben. Freundschaft markiert für sie einen idealen Ort, der Harmonie und Zuflucht bietet.

Das Freundschaftsideal der Generation Z fokussiert nicht mehr auf große Netzwerke, sondern auf verlässliche Freundschaften. Besonders relevant sind dabei folgende vier Aspekte:

  • wechselseitige Fürsorge im Sinne von Hilfe und Unterstützung „on demand“ (dass junge Menschen hier einen starken Akzent setzen, liegt angesichts ihrer geballten Krisenerfahrung und, damit verbunden, wachsender Sehnsucht nach Sicherheit durchaus nahe);
  • Authentizität: Im Kreise der Freunde und Freundinnen kann man die Erwartungen der Eltern und Lehrer ausblenden und man kann, anders als auf Social Media, wo Jugendliche erfolgsgesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgen und sich an optimierter Selbstpräsentation und perfekter Inszenierung abarbeiten, einfach so sein, wie man ist – das verspricht zumindest das Ideal;
  • Freisein von Konkurrenz: Wenn Jugendliche in eine von emotionaler Nähe und wechselseitiger Fürsorge getragene Gemeinschaft eintauchen, fühlt sich das für sie als wohltuender Kontrast zu den zunehmend marktförmigen Beziehungen, die unsere Wettbewerbsgesellschaft prägen, an;
  • Autonomie im Sinne einer Beziehung, die trotz empfundener Nähe keine allzu strengen Verpflichtungen mit sich bringt und das Individuum in seiner persönlichen Freiheit daher auch kaum einschränkt. Jugendliche haben das Gefühl, dass sie in ihren Freundschaftsbeziehungen für sich selbst mehr Spielräume haben und auch situationselastischer reagieren können als in den stärker selbstverpflichtenden Beziehungen innerhalb ihrer Herkunftsfamilie oder auch in der Paarbeziehung. Für die Generation Z, die sich generell durch eher geringe Bereitschaft zu Selbstverpflichtung charakterisiert, ist dies ein wichtiger Qualitätsfaktor ihrer Freundschaften.

Im Klartext heißt dies: Das Freundschaftsideal der Generation Z setzt auf Fürsorge und Freiheit. Sie ahnen es vermutlich schon. Dieses Ideal einzulösen, ist nicht immer leicht: vor allen in unruhigen Zeiten. 

Die 2020er Jahre sind davon geprägt, dass ständig etwas passiert, auf das unsere Gesellschaft nicht wirklich gut vorbereitet ist (Stichwort „Krise“). Junge (wie natürlich auch ältere) Menschen sind unterschiedlich betroffen. Lebensrealitäten laufen auseinander. Bereits während der Pandemie haben viele Jugendliche erlebt, wie schnell Freundschaften zerbrechen können. Unterschiedliche Gefährdungslagen, aber vor allem auch unterschiedliche Zugänge zum Pandemiemanagement wurden plötzlich zu unüberbrückbaren Hürden. Die emotionale Nähe, die Freundschaften auszeichnet, zerbrach. Seitdem beobachten Jugendliche bei wichtigen Fragen unserer Zeit eine zunehmende Tendenz zur Polarisierung. Die Pandemie ist zwar vorüber, dafür sind neue Probleme aufgepoppt, bei denen sich in der Bevölkerung die Geister scheiden. Das ist ein Angriff auf das Harmoniebedürfnis der Generation Z.

Insbesondere bei kontroversiell diskutierten politischen Themen entscheidet sich die harmoniebedürftige Generation Z daher gerne zur Flucht:

  • Die einen begeben sich gezielt in die Echokammer Gleichgesinnter und blenden Andersdenkende aus dem persönlichen Alltag so gut wie möglich aus. Auf Social Media tobt zeitgleich ein Kampf um Deutungshoheit zwischen polarisierten Politikblasen. Einen klassischen Diskurs bzw. ein von Kompromiss getragenes Verhandeln politischer Themen findet man selten.
  • Andere wiederum blocken die Diskussion heißer politischer Fragen in ihren Freundschaftsnetzwerken ganz bewusst ab, und zwar aus einem aus ihrer Sicht guten Grund: So kommen sie nicht in die Situation, entscheiden zu müssen, ob man mit Leuten, die anders denken, überhaupt weiter befreundet sein kann. Loyalität gegenüber Freunden, die in wichtigen Fragen gänzlich andere Positionen einnehmen, fällt auf jeden Fall schwer. Daher, so die Logik derer, die diese Strategie wählen, ist es eben oft besser, strittige Themen erst gar nicht anzusprechen.

Eine Freundschaft abzubrechen, gilt bei Jugendlichen im Falle eines Vertrauensbruchs als legitim, aber auch, wenn die persönlichen Vorstellungen vom Leben zu weit auseinander gehen. Oder man hat sich einfach „auseinandergelebt“. Junge Menschen verwenden hier ein ähnliches Vokabular wie Erwachsene in der Ehekrise. Gelegentlich verschwinden Freunde und Freundinnen dann auch ganz ohne Vorwarnung oder Begründung. In Zeitgeistdeutsch spricht man von „Ghosting“.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Idee, die junge Menschen heute, in Zeiten der Krise(n), mit Freundschaft verbinden, skizziert einen von wechselseitiger Fürsorge geprägten, harmonischen Zufluchtsort. Die Wirklichkeit ist aber oft eine andere.

AUTORINNEN-INFO: Dr. Beate Großegger – Institut für Jugendkulturforschung
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